Rom, Sixtinische Kapelle, 31. Oktober 1541
Michelangelo hatte bei der Entstehung des Freskos zum
»Jüngsten Gericht« auf jede Hilfe verzichtet. Ein heftiger
Streit mit einem besserwisserischen und hochnäsigen Handwerker
war der Auslöser dafür, dass er schon wenige Tage
nach Beginn der Arbeiten sämtliche Helfer und Helfershelfer
auf der Stelle hinausgeworfen und danach den Eingang
zur Sixtinischen Kapelle verbarrikadiert und unter strengem
Verschluss gehalten hatte. Niemand wusste, was er dort
erschaffen würde.
Selbst der Papst hatte nur eine vage Vorstellung davon. Er
kannte zwar den Entwurf auf der Holztafel, die ihm Michelangelo
vor mehr als sieben Jahren präsentiert und die er als
Vorlage für die Ausmalung persönlich in Auftrag gegeben
hatte. Aber auch dieser Entwurf, der »Bozzetto« Michelangelos,
war seitdem nicht mehr öffentlich zugänglich gewesen.
Mit ungeheurer Spannung erwarteten jetzt alle, die sich in
der Sixtinischen Kapelle versammelt hatten, die Enthüllung
des Freskos auf der Altarwand durch Papst Paul III.
Michelangelo, zu dessen Ehren die Feierlichkeiten am heutigen
31. Oktober 1541 ausgerichtet waren, hielt sich bescheiden
im Hintergrund und ließ der gaffenden Menge, die sich
dicht vor dem hoch über den Altar ragenden Fresko drängte,
gerne den Vortritt. Er verfolgte das gesamte Szenario eher wie
ein Zuschauer im Theater. Deshalb auch war er wohl der Erste,
der das rasch lauter werdende Getrampel fester, fast kriegerisch
anmutender Schritte bemerkte, die sich beunruhigend
schnell dem Eingang der Sixtina näherten, deren Türen plötzlich
mit voller Wucht aufgestoßen wurden.
Wer war dieser Mann, der plötzlich, von Männern der
Schweizergarde nicht gehindert, schwitzend und außer Atem,
nur ein paar Gefolgsleute hinter sich, in der Kapelle stand?
Der an seinen Insignien erkennbare Gesandte des kaiserlichen
Hofes hatte keine Zeit zu verlieren. Abrupt unterbrach
er die Feierlichkeiten. Während die große Menge der zu diesem
Ereignis eingeladenen Honoratioren noch in erschrockenem
Gemurmel verharrte, forderte ein Posaunenstoß absolutes
Stillschweigen ein.
Der Anführer der kaiserlichen Gesandtschaft fixierte den
Papst mit bohrendem Blick. Dann erst sprach er seine Worte
mit lauter Stimme in die unheimliche Stille der Sixtinischen
Kapelle hinein:
»Summus Pontifex Ecclesiae Universalis! Vicarius Jesu
Christi! Episcopus Romanus!«, der Gesandte, der sich damit
ausschließlich an Papst Paul III. gewandt hatte, legte eine
kurze Pause ein, ehe er fortfuhr: »Bürger von Rom! Mit einer
schrecklichen Botschaft stehe ich heute hier. Unser großes
christliches Heer, das unter der Führung des erlauchten Kaisers
Karl V. zu einem heiligen Kreuzzug aufgebrochen war, ist
zerstört. Vernichtet.«
Obwohl der Überbringer der italienischen Sprache offenbar
nicht mächtig schien und ein Gemisch aus Spanisch und
Italienisch gesprochen hatte, verstand die von Entsetzen ergriffene
Menschenmenge den Inhalt der Botschaft genau.
Alle wussten, dass Kaiser Karl V. mit christlichen Gefolgsleuten
aus ganz Europa zu einem Kreuzzug gegen den räuberischen
osmanischen Herrscher, Khair ad-Din, aufgebrochen
war. Und jetzt erfuhren sie geschockt, dass in der Nacht auf den
24. Oktober 1541 mehr als 150 Schiffe zerstört worden waren.
Ein gewaltiger Sturm hatte sie hinweggefegt. Fast die gesamte
Flotte war zerschmettert und lag zusammen mit Tausenden
von Männern auf dem Meeresboden. Der Kaiser selbst hatte
sich nur unter größten Anstrengungen und bei ständiger Todesgefahr
mit den traurigen Resten der schwer beschädigten,
einst so stolzen Armada nach Spanien retten können.
Michelangelo schauderte. Noch nie in seinem langen Leben
hatte eine Botschaft ihn so sehr in Panik versetzt wie diese.
Was er eben gehört hatte, war schrecklich, aber nur er
brachte die Botschaft sofort in direkten Zusammenhang mit
der brisanten Absprache, die ihm Clemens VII. bei einem
konspirativen Treffen im September 1533 in San Miniato al Tedesco
aufgezwungen hatte.
Was der kurz danach verstorbene Papst damals von ihm
verlangt hatte, war ungeheuerlich gewesen. Aber da Michelangelo
dabei seinen eigenen Vorteil gesehen hatte, hatte er
diesem unheiligen Pakt vorbehaltlos zugestimmt. Sollte ihm
das jetzt etwa zu Verderben werden? Heute - In der Stunde seines
größten Triumphes…?